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Traurigkeit ertragen

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Wäre es uns möglich, weiter zu sehen, als unser Wissen reicht... vielleicht würden wir dann unsere Traurigkeit mit größerem Vertrauen ertragen als unsere Freuden. Denn sie sind die Augenblicke, da etwas Neues in uns eingetreten ist, etwas Unbekanntes; unsere Gefühle verstummen in scheuer Befangenheit, alles in uns tritt zurück, es entsteht eine Stille, und das Neue, das niemand kennt, steht mitten darin und schweigt.

Wir haben uns verwandelt wie ein Haus, in das ein Gast eingetreten ist. Wir können nicht sagen, wer gekommen ist, wir werden es vielleicht nie wissen, aber es sprechen viele Anzeichen dafür, daß die Zukunft in solcher Weise in uns eintritt, um sich in uns zu verwandeln, lange bevor sie geschieht.

Und darum ist es so wichtig, einsam und aufmerksam zu sein, wenn man traurig ist: weil der scheinbar ereignislose und starre Augenblick, da unsere Zukunft uns betritt, dem Leben so viel näher steht, als jener andere und zufällige Zeitpunkt, da sie uns, wie von außen her, geschieht.

Je stiller, geduldiger und offener wir als Traurige sind, umso tiefer und umso unbeirrter geht das Neue in uns ein, um so besser erwerben wir es, um so mehr wird es unser Schicksal sein, und wir werden uns ihm, wenn es eines späteren Tages "geschieht" (das heißt: aus uns heraus zu anderen tritt), im Innersten verwandt und nahe fühlen. Und das ist nötig.

Rainer Maria Rilke: (Lektüre für Minuten), S. 83

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